.
Interessanter Artikel in der »Neuen Westfälischen« vom 18.09.2008:
"Von der Geschichte überrollt
Der Roten Armee den Weg kaputtsprengen – bis zum Ende des Kalten Kriegs wirkten Bundeswehr-Wallmeister im Geheimen
VON TYLER LARKIN
Bielefeld. Der Eiserne Vorhang teilte Europa, es herrschte Kalter Krieg. Ein unauffälliges Trio auf der Landstraße, eine im Geheimen operierende Einheit der Bundeswehr – ein Wallmeistertrupp. Und der Gullideckel ist die Abdeckung für einen sechs Meter tiefen Sprengschacht, dessen explosiver Inhalt aus der Straße eine Kraterlandschaft geformt hätte. Für aus dem Osten kommende Panzer wäre hier erst einmal Schluss gewesen. In der Öffentlichkeit wusste kaum einer von der Existenz dieser Sperranlagen.
»Wir waren die Hausmeister der Truppe«, sagt Hauptfeldwebel Arno Zebrowski, Wallmeister im Garnisonsstandort Augustdorf. Hausmeister in Diensten der Bundeswehr mussten allerdings in der Regel keine umfangreiche Sicherheitsüberprüfung des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) über sich ergehen lassen. Doch Wallmeister waren Geheimnisträger, die in ihrem Gebiet jeden Quadratmeter kannten. Wo befinden sich die vorbereiteten Sperren? Wo lagert die Munition? An welcher Stelle können Panzer eine Flußdurchquerung wagen? Wo ist das Gelände für eine spontane Sperrung geeignet?
Zebrowskis wichtigstes Hilfsmittel ist seine topografische Karte, Maßstab 1:50.000. Darauf war neben den Sperren eine Vielzahl weiterer Informationen zu finden: Veränderungen im Straßenverlauf, Alternativrouten, Befahrbarkeit von Nebenstrecken. Um das Kartenmaterial auf dem neuesten Stand zu halten, wurden Erkundungsfahrten durchgeführt.
Sondergenehmigung für alle Wege
Gesperrte Wege waren kein Problem. Im Bedarfsfall zückten die Wallmeister eine Sondergenehmigung, die jeden hoheitlichen Beamten der Republik den Weg freimachen ließ. Für den grauen VW-Bus öffneten sich so nahezu alle Schranken.
Darüber hinaus erstellten die Wallmeistertrupps Gewässerfolien – eine transparente Karte, die maßstabsgetreu über die Karten der Truppführer passte und eine Unmenge an Daten zur Beschaffenheit von Flussufern oder Überquerungsmöglichkeiten von Gewässern aller Art lieferte. »Ich bin jeden Meter entlang des Ufers der Werre abmarschiert – beidseitig«, berichtet Horst Schäferhenke, Wallmeister a. D. aus Bielefeld.
»Außer Dienst« stimmt nicht wirklich. Im Geiste ist der 76-jährige ehemalige Stabsfeldwebel der Wallmeisterei noch immer eng verbunden. Vor mehr als 20 Jahren ging er in den Ruhestand, aber die Sprengschachtanlagen in den Straßen des Teutoburger Waldes kennt er wie andere Pensionäre das Fernsehprogramm. »Im V-Fall (Verteidigungsfall) war unser erklärtes Ziel, den Vormarsch der gegnerischen Panzerverbände in Richtung Rhein für einige Stunden aufzuhalten«, erzählt Schäferhenke. Es gab 65 Sperranlagen in der weiteren Umgebung Bielefelds, allerdings keine im unmittelbaren Stadtgebiet.
»Als Wallmeister waren wir die kleinste selbstständige Einheit der Bundeswehr. Wir operierten im Geheimen. Und wir wurden beneidet. Es war ein toller Job.« Schäferhenke ist begeistert – immer noch.
Bundesweit gab es 136 Wallmeistertrupps, bestehend aus einem Truppführer, Stellvertreter und einem zivilen Kraftfahrer, der hervorragende Ortskenntnisse besitzen musste. Der Verschleierung wegen arbeiteten die Teams in Zivil, ein Novum in der Bundeswehr. Nur im Ernstfall hätten sie die Uniform übergezogen. Der graue VW-Bus war als Dienstfahrzeug mit einem zivilen Wechselkennzeichen ausgestattet, inklusive eines zweiten Fahrzeugscheins.
Katz-und-Maus-Spiel mit russischen Agenten
Allerdings blieb die Arbeit der Wallmeister dem Gegner dennoch nicht verborgen. Die Agenten der sowjetischen Militärmission in Bünde hefteten sich häufiger an die Räder der grauen VW-Busse. Zu erkennen waren die ebenfalls in Zivil operierenden Spezialkräfte nur an ihren Nummernschildern, die Hammer und Sichel schmückten. »Sobald sie an uns dran waren, umfuhren wir die Sperren natürlich. Es war ein bisschen wie Katz und Maus spielen«, erzählt Schäferhenke.
Es ranken sich viele Mythen um die Wallmeister. Eine Reihe von Hobbyhistorikern veröffentlicht vermeintlich Richtiges auf zahlreichen Seiten im Internet. »Teilweise ist das Material erstaunlich korrekt, manches rangiert allerdings unter der Kategorie gefährliches Halbwissen«, erzählt Hauptfeldwebel Zebrowski. So waren die Sprengschächte nie mit scharfer Munition bestückt. Die lagerte in Bunkern und wäre erst im Ernstfall durch Pioniereinheiten in die Schächte hinabgelassen worden.
Nach der Wiedervereinigung 1990 und der Auflösung der Sowjetunion 1991 erwartet niemand mehr einen Einmarsch der Roten Armee in Westeuropa. »Die Wallmeister sind von der Geschichte überrollt worden«, sagt Zebrowski.
Horst Schäferhenke ist froh über die politischen Veränderungen. Trotzdem schlagen zwei Herzen in seiner Brust. Als ein Kollege wegen Krankheit für sechs Monate ausfiel, kehrte Schäferhenke ohne Zögern aus dem Ruhestand zurück. »Ein klasse Gefühl, noch einmal dabei zu sein.«
Die Szenerie auf der einsam gelegenen Landstraße erregt kaum Aufmerksamkeit. Ein grauer VW-Bus mit blinkenden Warnleuchten am Heck steht auf der abgesperrten Fahrbahn. Zwei Männer in Arbeitskleidung haben einen Gullydeckel geöffnet, ein dritter regelt den Verkehr. Eine alltägliche Baustelle eben. Eine Momentaufnahme aus der Zeit, bevor die Mauer fiel."
_________
► Quelle: http://www.nw-news.de/nw/news/owl_/_nrw/?cnt=2583211 [29.09.2008; 19:00 Uhr]
.